Eine Lernkultur im Wandel: Wie wollen wir mit digitalen Medien unterrichten?

                                                Bild aus Inputreferat von D. Petko (youtube)


In unserer täglichen Arbeit stellen sich viele Kolleginnen und Kollegen die Frage, wie und wann es sinnvoll ist, mit digitalen Medien zu unterrichten. Und vor allem: Warum mit digitalen Medien (dM) unterrichten? 

In diesem Blogbeitrag werden zwei neuere Studien vorgestellt, die sich genau mit diesen Fragen beschäftigen, und zwar auf unserer Stufe.

Bisherige Datenerhebungen zur Bedeutung, Qualität und Wirksamkeit des Unterrichtens mit dM erfolgten meist international, auf allen Stufen, punktuell und mit völlig unterschiedlichen Messmethoden. Es war immer schwierig, Schlussfolgerungen zu ziehen, auch wenn eine Richtung bereits erkennbar war (siehe Blogeintrag über die Wirksamkeit digitaler Medien).

Die beiden neueren Schweizer Studien schaffen hier Abhilfe.


Grundhaltungen im Unterricht mit dM

Bevor es aber zu den Resultaten der Studien geht: Die folgenden, hier stark zusammengefassten Grundgedanken tauchen immer wieder auf, wenn man sich mit der Umsetzung und Didaktik des Unterrichts mit dM befasst. Sie sind unverzichtbar, um über den digitalen Wandel in der Schule nachdenken zu können (siehe u.a. Muss-Meerholz, 2019).

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Für die Schule wird der digitale Wandel bedeuten, neue Dinge zu lernen und zu lehren. Das ist wahrscheinlich das, was Universitäten und die Wirtschaft in Zukunft von unseren Schüler*innen erwarten werden (Fadel et al., 2021, Bildung für eine Welt im Wandel gestalten, Kap. 1 ). Bisher ist die Digitalisierung im Unterricht jedoch vor allem als punktuelle Ergänzung zum "normalen" und "bewährten" Unterricht sichtbar. Unterricht findet meistens so statt wie immer, punktuell wird etwas digitalisiert, das bisher auf Papier ausgeteilt wurde (PDF in One Note, Prüfungen auf Smartlearn, gewisse Programme für Formeln oder Verben usw.). Das ist die Geschichte des alten Weins in neuen Schläuchen. Was aber nicht unbedingt negativ zu werten ist. Laut Forschung hat dieser punktuelle Ansatz auch eine ganze Reihe positiver Auswirkungen: Der Unterricht wird klarer, interaktiver, anpassungsfähiger, kreativer, kommunikativer, strukturierter und vielleicht auch motivierender. All dies führt wiederum zu messbaren Lernfortschritten. Das Wichtigste bleibt noch die Vermittlung des Wissens durch Fachpersonen und Bildungsprofis. Das heisst, durch uns.

Allerdings würde eine tiefgreifendere Digitalisierung bedeuten, dass die Lehrkraft ihr eigenes Unterrichtskonzept und ihre eigenen Gewohnheiten an die sich verändernde Schule anpassen müsste: Die Zukunft verlangt neue Kompetenzen, und deshalb braucht es neue Lernsituationen, neue Lernformen und neue Aufgaben. Hier können uns die dM dabei helfen, Lernformen zu ermöglichen, die potenziell lehrreicher sind. Solche Lernformen würden sich auf eine (noch) aktivere Beteiligung der Lernenden, einen eindeutig konstruktivistischen Ansatz und Interaktion auf allen Ebenen konzentrieren. Siehe hierzu das ICAP -Modell, (Chi & Wylie, 2014). 

(Ja, natürlich lässt sich das Modell auch auf Unterricht vor BYOD anwenden und natürlich ist der konstruktivistische, interaktive Ansatz nicht die Neuerfindung des Rads.)

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Studie I: DigiTras II

Für uns am Gymnasium ist vor allem das laufende nationale Programm "Digitale Transformation auf der Sekundarstufe II" (DigiTras II) interessant. Durch eine gezieltere Untersuchung der Entwicklung in den Schulen der Sekundarstufe II soll herausgefunden werden, welche Faktoren für einen erfolgreichen Unterricht in der digitalen Transformation zentral sind. Die ersten Ergebnisse der Studie, die bis 2024 läuft, liegen bereits vor. Einer der Projektleitenden, Prof. Domink Petko (Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich) stellt das Projekt im Gymansium Helveticum näher vor (Mai 2022). 

Die ersten Ergebnisse der DigiTras-Studie deuten jedoch, wie zu erwarten war, darauf hin, dass digitale Medien im Unterricht immer noch sehr häufig für "passives Lernen" [nach ICAP-Definition] eingesetzt werden (Petko, Gymnasium Helveticum). Im Grossen und Ganzen kann man die Situation so zusammenfassen und etwas pointiert ausdrücken: In der Regel leiten Lehrpersonen an, während Lernende höchstens ausführen und ihren Lernprozess wenig mitbestimmen und mitgestalten, was nicht dem Wandel der Unterrichtskultur in der digitalen Transformation entspricht. 

In diesem Inputreferat (youtube) erläutert Domink Petko die aktuellen Erkenntnisse aus der DigiTras II-Studie .


Studie II: Der Educa-Bericht

Die zweite Studie, die uns interessiert, ist der Educa-Bericht "Die Digitalisierung im Bildungswesen", der 2022 im Auftrag des Bundes (DEFR) und der Kantone (EDK) veröffentlicht wurde. 

Der Bericht evaluiert die Digitalisierung im schweizerischen Bildungsbereich, d.h. für alle Stufen im ganzen Land, und widmet ein Kapitel (8) der Sek II. Die Schlussfolgerungen des Berichts gehen in die gleiche Richtung wie die anderer Studien:

Der Einsatz digitaler Ressourcen kann Lernprozesse beschleunigen und die Lernleistung verbessern. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Ressourcen den Schülerinnen und Schülern helfen, selbstständig zu lernen, zu üben oder Themen zu erarbeiten. 

Weiter ist es im Unterricht mit dM laut dem Bericht vielversprechend, zu ergänzen und nicht zu ersetzen:

"Digitale Ressourcen, die den Lehrer unterstützen [...] scheinen tendenziell einen positiven Effekt auf die Lernleistung der Schüler zu haben." (Educa, 2022, Kapitel 5.2). Werden digitale Ressourcen hingegen eingesetzt, um einen Lehrer zu ersetzen, "[...] verschlechtern sich die Leistungen der Schüler tendenziell". 

Wenig überraschend stellt der Bericht auch fest, dass der uneingeschränkte Zugang zu den dM im Unterricht gleichzeitig Ablenkung bedeutet, dass die Motivationsfaktoren mit der Zeit abnehmen, dass aber ältere und verantwortungsbewusstere Schüler erfolgreicher mit dM arbeiten können (Educa, 2022, Kap. 8.3). 

Bewertung von Lernen mit digitalen Ressourcen im Vergleich zum «analogen» Unterricht nach Schulstufen (Educa, s. 120) 

(in den Quellen befindet sich der direkte Link zum Bericht. Die Kurzfassung für die eiligen Leser und Leserinnen sowie die Kapitel 5 und 8 sind absout lesenswert) 


Fazit

Abschliessend und als Bestätigung der Arbeit an unseren Schulen, als persönliches Fazit nach Durchsicht der Fachliteratur und der erwähnten Beiträge:

  • Guter Unterricht mit dM bedeutet: guter Unterricht. 
  • Ergänzen und nicht ersetzen.
  • Vielversprechend: individualisierte Übung, Erarbeitung, Selbstständigkeit.
  • Schritte in Richtung einer anderen Lernkultur machen (Stichworte: offenere Lernformen, Projektarbeit, flipped classroom, ...).
  • Wir Lehrende brauchen unbedingt Zeitressourcen für die Entwicklung, den Austausch und die Bewertung von digitalen Ressourcen.

Der Unterricht mit digitalen Medien ersetzt nicht unbedingt  Unterricht mit analogen Medien und ist nicht automatisch "besser" als "normaler" Unterricht. Für eine Schule der Zukunft sollten die heutigen Lehrkräfte diese zusammengefassten Erkenntnisse jedoch unbedingt berücksichtigen und mitnehmen, wenn die Digitalisierung des Unterrichts mitgestaltet und nicht einfach toleriert werden soll. (pag)


Quellen:

Dominik Petko, Digitale Transformation der Sekundarstufe II (youtube; besucht 28.3.2023)

Domink Petko, Digitale Transformation der Sekundarstufe II, Gymnasium Helveticum, digitale Ausgabe, Mai 2022.

Chi & Wylie, The ICAP Framework: Linking Cognitive Engagement to Active Learning Outcomes. In: Educational Psychologist, Vol. 49, 2014, pp. 219-243.

Educa: Digitalisierung in der Bildung, 2022

Fadel, Bialik, Trilling, Die vier Dimensionen der Bildung: Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen, ZLL21, 2017.

Muuß-Merholz, Jöran: Aufforderung zum Tanz! Damit neue Medien nicht alte Pädagogik optimieren (joeran.de, besucht am 28.3.2023)

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